Modellhistorie Lancia Flavia von 1962-1976

Oldtimer Markt 6/96
Text und Autor: Dieter Günther
Bilder: aus dem Archiv der IG

Die Italiener umdrängten ihn auf dem Salon wie ein „nationales Ereignis“, schrieb eine große deutsche Fachzeitschrift im November 1960. Und würdigte damit das viel beachtete Debüt, das der viertürigen Lancia Flavia Limousine (815 Baureihe) auf den Autosalon von Turin feierte. Das war verständlich, denn einen Lancia umgab stets das Flair des Exquisiten: allein deshalb verdiente eine Neuschöpfung aus dem traditionellen Turiner Hause Aufmerksamkeit.

Warum aber ein solches Interesse? An der Optik kann es wohlkaum gelegen haben. Zeitgenössische Chronisten sprachen von „unaufdringlich und zurückhaltend“.

Anders das auf dem Turiner Autosalon im Herbst 1961 vorgestellte Pininfarina Coupé. Auf den gegenüber der Limousine verkürzten Radstand von 2480 mm statt 2650 mm hatte er einen 2+2 Sitzer gezaubert, der durch die Delikatesse seiner Linien begeisterte. Dass die blitzsauber gezeichnete Stahlkarosserie (es gab auch eine Hand voll Alu-Karosserien) vor allem von der Seite und von schräg hinten an den Ferrari 250 GT/E erinnerte, also an eine andere große Pinin-farina-Schöpfung, dürfte die verehrte Kundschaft kaum gestört haben.

Das Cockpit vermittelte weniger Sportwagenflair als vielmehr gediegene Wohnlichkeit wenn das Coupé (anders als der Viertürer) mit Sportlenkrad, Mittelschaltung und Einzelsitzen daherkam. Dafür blickte man unverändert auf einen Bandtacho der rechts von einem eingelassenen Drehzahlmesser abgerundet wird. Die Qualität der verarbeiteten Materialien wie das gesamte Finish waren untadelig. Die Sitzposition für Fahrer und Beifahrer sowie die Rundumsicht ebenfalls – während in den offiziell von Lancia als Viersitzer deklarierten Coupé die Hinterbänkler vom Wohlwollen ihrer Vorderleute lebten. Und dann waren da noch jene liebevollen, manchmal schrulligen Details, die den Zweitürer erst zu einen richtigen Lancia machten. Dazu gehören die roten Warnlampen in den Türen oder der durch einen Hebel begrenzbare Einschlag der Vorderräder für den Einsatz von Schneeketten. Aber erst ein Blick auf die Technik erklärt, warum das Auto bei seiner Präsentation für solche Furore sorgte. Was hier geboten wurde stellte einen Bruch mit allen bisherigen Traditionen klassischer Lancia-Technik dar. Denn die Flavia-Familie setzte auf Boxermotor und, als erstes Serienauto Italiens auf Frontantrieb – was berechtigtes Staunen und Zweifel hervorrief. Altgediente Lancisti freilich hatten  mit einer solchen Entwicklung gerechnet, hieß doch der Chefkonstrukteur und technische Leiter der Firma seit 1955 Prof. Dr. Antonio Fessia, der den „großen“ Vittorio Jano absetzte. Dieser kühle Analytiker aber galt als überzeugter Verfechter von Frontantrieb und Boxermotor.

So setzte natürlich auch das Coupe auf einen kurzhubigen Boxertriebwerk mit einem Hubraum von 1499 ccm, der bei 5800 Touren 90 CUNA-PS (die Motorleistung wird hier ohne Luftfilter und Auspuff gemessen) mobilisierte. Der Vierzylinder operiert mit hemisphärischen Brennräumen und V-förmig hängenden Ventilen, die über Stoßstangen und Kipphebel betätigt werden – von zwei Nockenwellen, die rechts und links unterhalb der dreifach gelagerten Kurbelwelle rotieren. Die Leichtmetallkolben laufen in „nassen“ Laufbüchsen, Kurbelgehäuse wie Zylinderköpfe bestehen aus Leicht-metalllegierung und wurden nach einem von der Schweizer Firma Injecta entwickelten Druckgußver-fahren hergestellt. Für die Gemischaufbereitung des 9,3:1 verdichteten Motors sorgen zwei Doppelfallstrom- Vergaser von Solex;  gegenüber der Version der Limousine kommen hier schärfere Nockenwellen zum Einsatz.

Diese nicht alltägliche Konstruktion sitzt vor der Vorderachse, das vollsynchronisierte Vierganggetriebe dahinter. Dazwischen befinden sich Kupplung und Differential. Vom Differential gehen die angetriebenen Halbachsen mit je zwei homokinetischen Gelenken ab, während die Hauptwelle des Getriebes über das Differential hinweg führt. Diese Einheit samt der kompletten Radaufhängung ruht auf einem Hilfsrahmen, der an sechs Punkten mit der selbsttragenden Karosserie elastisch verbunden ist. Führung und Federung der Vorderräder sind voneinander getrennt. Geführt werden diese durch doppelte Dreiecks- querlenker und durch eine querliegende Blattfeder abgefedert. Gemessen daran scheint die hintere Starrachse mit ihren Blattfedern und Panhardstab (zumindest aus heutiger Sicht) vergleichsweise simpel. Vorne wie hinten gibt es Stabilisatoren sowie Gasdruck-Stoßdämpfer dazu eine aufwendige, servounterstützte Zweikreis-Bremsanlage mit Scheiben an allen vier Rädern sowie eine Schnecken-Rollen-Lenkung.

Nicht übel sind auch die Fahrleistungen des Coupés: Seine 90 PS treiben es auf eine Spitze von 170 km/h und machen es in knapp 15 Sekunden 100 km/h schnell. Dabei bestach der Boxermotor durch seine hohe Laufkultur und Drehfreudigkeit, wirkt aber andererseits bei niedrigeren Drehzahlen schlapp und träge. Zu den Pluspunkten des rund 12 Liter auf 100 Kilometer verbrauchenden Zweitürers zählen seine hervorragend ansprechenden, standfesten Bremsen und das meist neutrale Fahrverhalten. Aber Vorsicht: Da 60 Prozent des Gewichts auf die Vorderachse drücken, ist der Lancia immer und jederzeit für eine hektische Reaktion gut. Was nicht so ganz zu seinem Charakter passt, denn mit seiner komfortbetonten Federung und der leichtgängigen, aber indirekten Lenkung kultiviert das Flavia-Coupe eine Menge Fahrvergnügen – nicht durch Sportlichkeit, sondern durch die Mühelosigkeit, mit der es sich bewegen lässt.

Trotz des erwähnten Bruchs mit den technischen Gepflogenheiten des Hauses hat man also wieder einen typischen Lancia vor sich. Denn in der Via Vincenzo Lancia zu Turin scherte man sich einen Dreck um allgemeine Trends oder um die Konkurrenz, statt dessen fertigte man hochwertige Autos für einen kleinen Kreis von Kennern, die dafür tief in die Tasche zu greifen bereit waren. Ob diese Rechnung auf Dauer aufgehen würde?  1962 etwa stellten 12.000 Lancia-Werker gerade mal knapp 24.000 Autos auf die Räder – schon vor 35 Jahren ein Unding, das einiges über die Produktivität des Hauses Lancia aussagt  (etwa gleichzeitig stellten 100.000 Fiat-Werker 2.500 Personenwagen auf die Räder – am Tag!).

Aber zurück zur Flavia, der die Lücke zwischen Appia und Flaminia schloss. In Deutschland  musste man  im September 1963 genau 8.445 DM für ihn anlegen, während es eine Alfa Romeo Giulietta Sprint für 7.176 DM gab.  Direkte Rivalen aus deutschen Landen ließen sich zum damaligen Zeitpunkt keine ausmachen – höchstens der Glas 1300 GT und der Porsche 1600 SC, die mit 6.010 DM beziehungsweise 8.523 DM zu Buche schlugen.

Zur Flavia Berlina und zum Coupé gesellte sich im Herbst 1962 ein ebenfalls knapp viersitziges, von Michelotti entworfenes und von Vignale gebautes Cabrio, das in Technik und Radstand vollständig dem Coupé entspricht. Es bietet ein im Detail umgestaltetes Armaturenbrett samt neuen Lenkrad sowie andere Türverkleidungen – das Mutterhaus billigte seinenAuftragsdesignern also durchaus Freiräume zu. „Ein erstmalig gezeigtes Flavia Cabriolet ist hübsch, zweckmäßig und schnell“ würdigte Heinz-Ulrich Wieselmann in einem Bericht über den Turiner Autosalon den Neuling.

Um dann festzustellen, saß „Zagatos Flavia Sport weiterhin das abenteuerlich  abschreckenste Auto ringsum bleibt“. Die Rede ist natürlich vom dritten – und sportlichsten Flavia, den beinahe schon traditionsgemäß Zagato auf die Räder stellen durfte. Tatsächlich lieferten die Exzentriker aus Terazzano di Rho einen so radikalen Entwurf ab, dass es manchem Autofreund die Sprache verschlug. Der junge Ercole Spada hatte die aerodynamische ausgefeilte und aus Leichtmetall gefertigte Karosserie – sie zeigte sich mit einer geänderten Innenausstattung, umhüllte aber die bekannte 90 PS Technik der anderen Zweitürer – gezeichnet und gute Arbeit geleistet. Das Ding „ging“ 175 km/h (nicht schlecht für einen 1,5 Liter Auto) und hielt im Motorsport recht beachtlich dagegen.

Wobei er sich auf der Rundstrecke und im Rallyesport gleichermaßen erfolgreich zeigte. Den vermutlich schönsten Flavia-Sieg fuhr Rene Trautmann heraus, ein ehemaliger Citroen-Werkspilot, der zum 1962 gegründeten und werksunterstützten  Lancia-HF-Team wechselte und 1965 den „Coupé des Alpes“ für Lancia gewann. Alles in allem aber sei angemerkt, dass weder der Zagato noch das bei Rallyes eingesetzte Pininfarina Coupé im Motorsport Bäume ausrissen – und das Rene Trautmann 1965 nicht auf einem 1,5 Liter Zagato siegte.

Denn die Lancia Techniker hielten mittlerweile einen 1,8 Liter Triebwerk bereit – notgedrungen, denn die Giulietta hatte sich zur ausgewachsenen Giulia entwickelt und Fiat etwa mit den leichtgewichtig – leistungsfähigen und dabei noch preisgünstigen 1500 ein ganz heißes Eisen geschmiedet. Und dann gab es noch Enrico Nardi: Kaum war der Flavia erschienen, da hielt Nardi einen auf 1.727ccm Hubraum vergrößerten Motor parat, der vor allem für mehr Durchzugskraft sorgte. Von den meisten Lancia-Händlern als „halboffizielles“ Tuningpaket angeboten, konnte das Werk seit September 1963 dann selbst mit einem auf 1800 ccm vergrößerten Triebwerk dienen, das beim Coupe und Cabrio 92 CUNA-PS bei 5200 U/min leistete und vor allem mit einen höheren maximalen Drehmoment aufwartete.

Damit präsentierten sich die auf der IAA in Frankfurt gezeigten Modelle insgesamt temperamentvoller und durchzugskräftiger. Das größere Aggregat, das mit modifiziertem Zylinderblock und anderer Kurbelwelle daherkam wurde auch in die Limousine nahezu unverändert eingebaut (beim 1,5 Liter-Motor betrug der Leistungsunterschied noch rund 10PS); nur der Zagato durfte sich einen größeren Schluck aus der Pulle nehmen: Statt einem kamen hier gleich zwei noch größere Doppelfallstromvergaser von Solex zum Einsatz, woraus 100 PS und ein maximales Drehmoment von 16,6 mkg resultierten. Zusammen mit einer längeren Achsübersetzung reichte dies für Tempo 185. Ein Jahr später stieg die Leistung des Zagato auf 105 CUNA-PS – zwei 40er Doppelvergaser von Weber. Übrigens profitierten alle 1800er Modelle von einem serienmäßigen Ölkühler.

Die nächste Leistungszulage erfolgte ein halbes Jahr später, zum Pariser Salon in Oktober 1965. Wieder war es ein Paukenschlag, zumindest ein Kleiner: Als erster italienischer Autobauer lancierte Lancia einen Serienwagen mit Benzineinspritzung. Allerdings dauerte es bis Sommer 1966, ehe die ersten Autos mit diesem mechanischen, von der in München ansässigen Firma Kugelfischer gelieferten System den Kunden übergeben werden konnten. Für alle Modelle lieferbar, brachte es der 1800 Iniezione auf 102 PS bei gesunkenem Verbrauch. Eine Drehstromlichtmaschine komplettierte die Neuerungen.

Tat sich 1966 nicht viel, so ging es in den folgenden Jahren Schlag auf Schlag: 1967 erschien die Viertürige Flavia (Typ 819) mit adrettem Kleid und leicht modifizierter Mechanik – und 1969 ging Lancia an den Industriegiganten Fiat über. Für viele Autoliebhaber endete damit eine Epoche. Die Zeit des Cabrios und des bizarren Zagatos war zu diesem Zeitpunkt bereits vorbei. Man hatte beide Modelle ersatzlos gestrichen, während das wunderschöne Coupé zu einer zweiten Runde antreten durfte. Auf dem Genfer Autosalon im Frühling 1969 debütierte der besagte Neuling (Typ 820).