Fahrbericht „Motor Klassik“ 11/2003. Piccola e fragile

Autor: Bernd Wieland
Fotos: Reinhard Schmid

Name ist alles, aber kein Programm. Es war eine von Konsul Quintus Fulvius Flaccus vor über 2000 Jahren gebaute Kriegsstraße, die einem der friedlichsten und femininsten Lanciaden Namen gab. Das nach der Via Fulvia zwischen Asti und Tortona benannte Coupé bezaubert mehr denn je mit seiner ungewöhnlichen Linienführung. „Wir wollten ein hübsches sportliches Auto für Frauen und junge Leute bauen”, erzählt Dottore Enrico Masala, der heute noch ab und zu bei Museumsführungen einspringt. Der Ex-Vertriebsmanager von Lancia erinnert sich an den Leitsatz, mit dem er den Wagen bei den Kunden propagierte: „Das Coupé schwirrt vor Lebensgefühl.” Lancia-Designchef Piero Castagnero lieferte hier ohne Mithilfe berühmter Designer wie Pininfarina, Bertone oder Zagato sein Meisterstück ab. Die schmalen Dachsäulen lassen das kleine Coupé überaus elegant und beinahe zerbrechlich wirken. Die plane Heckscheibe, die waagrechte Kofferraumhaube und der kantige, konkave Heckabschluss geben der Fulvia ihren ganz speziellen Charakter. Besonders deutlich kommt dieses Charisma bei dem Exemplar aus dem Turiner Lancia-Museum zum Ausdruck: Es vermittelt den Charme eines Oldtimers, aber die Perfektion eines Neuwagens. Ganze 139 Kilometer hat das hellblaue Fulvia 3 Coupé auf dem zierlichen Tacho, das am 10. Januar 1976 als letztes Exemplar von 153 000 gebauten Seriencoupés vom Band lief.

Der Tankwart in der Turiner Innenstadt legt die Handflächen aneinander wie zum Gebet, als diese Fulvia zur Zapfsäule rollt. Er beugt sich zum offenen Seitenfenster herein und lässt den Blick langsam über die hölzerne Armaturentafel gleiten. Fünf schöne Rundinstrumente für Tempo, Drehzahl, Benzinstand, Wassertemperatur und Öldruck sind der einzige Schmuck in einemschlichten, stilvollen und funktionellen Cockpit. Es beeindruckt durch konsequentes Weglassen von unnötigen Zier oder Bedienelementen. Der Mann an der Zapfanlage hebt seinen ölgetränkten Lappen kurz zum Gruß, als die Fulvia mit sonorem Auspuffklang losfährt. Im Jahr 2003 eine Fulvia im Neuzustand zu sehen, ist fast so ungewöhnlich, wie eine zu fahren. Weil eine Restaurierung in Relation zum Wert des Autos teuer kornmt (siehe Kaufberatung), sind die verbliebenen Exemplare meist heruntergeritten und ausgeleiert.

Anders bei diesem letzten Stück: Das Coupé fährt sich überraschend straff solide und gut gebaut an. Das verwundert umso mehr, als es sich um ein Modell der letzen Serie 3 handelt. Hier kamen längst einige Kunststoff- und andere Billigteile zum Einsatz, die Fiat den Lancia-Modellen nach dem Kauf desUnternehmens am 24. Oktober 1969 verordnet hatte. Doch die Kosten sparenden Veränderungen, die vom Plastik-Kühlergrill bis hinzu billigen Schrauben und Muttern aus dem weit verzweigten Fiat-Konzernreichten, konnten der unnachahmlichen Kombination aus Eleganz, Charme und Sportlichkeit kaum etwas anhaben. Die sportive Auslegung zeigt sich schon vor dem Losfahren: Der erste Gang desleicht schaltbaren Getriebes liegt wie bei reinrassigen Sportgetrieben hinten links, die fünfte Fahrstufe ist kurz übersetzt und damit kein gemütlicher Schon-, sondern ein echter Fahrgang. Angetrieben werden nach langjähriger Lancia-Tradition die Vorderräder, was für die damalige Zeit ungewöhnlich gutkaschiert werden konnte.

„Wenn überhaupt ein Auto seinen Frontantrieb verleugnen kann, dann ist es das Fulvia Coupé“, stellte Auto Motor und Sport 1967 der kleinen Italienerin Bestnoten aus.

Dies ist auch ein Verdienst der leichtgängigen Lenkung, die fast keine Antriebseinflüsse zum Fahrer durchkommen lässt. Ein kleiner Nachteil ist allenfalls die indirekte Auslegung: Mit vier Umdrehungen von Anschlag zu Anschlag muss man im Turiner Stadtverkehr heftig kurbeln, um an den Kreuzungenflott abzubiegen.

So ungewöhnlich wie das Frontantriebskonzept geriet auch die Konstruktion des Fulvia-Motors. Das Besondere hat bei Lancia Tradition: Die Appia galt bereits in den fünfziger Jahren als technischer Sonderling, weil ihre vier Zylinder nicht in Reihe, sondern in einem V angeordnet waren. Erst die Ford-Modelle 12 Mund 15 M machten das Konzept in Deutschland populär. Dieses im 60-Grad-Winkel gebaute Aggregat wurde auch im Saab 96 und im Matra 530 LX montiert. Dem Vorteil kurzer Baulänge stehen dabei aber Probleme mit dem Massenausgleich gegenüber.

Während in den Ford-Motoren Ausgleichswellen für Laufruhe sorgen, kommt dasLancia-Aggregat der Fulvia ohne diese Hilfen aus. Sein V-Winkel ist mit 13 Gradso eng, dass beide Zylinderpaare unter einen Zylinderkopf passen. Um eine Zweiteilung der Nockenwelle kamen die Konstrukteure um Cheftechniker AntonioFessia allerdings nicht herum.

Jedes Zylinderpaar trägt seine eigene kurze Welle, von denen eine die Einlass-und die andere die Auslassventile aller vier Zylinder betätigt. Die Kurbelwelle ist steif und kurz und läuft in ihren drei Lagern sehr schwingungsarm. Dass bei Lancia damals sehr sorgfältig und detailvediebt konstruiert wurde, zeigen halbkugelige Verbrennungsräume, V-förmig angeordnete Ventile und der Einsatz von teurem Aluminium für den Zylinderkopf und das Getriebegehäuse. Das Ergebnis kann sichsehen lassen. Die aufwendige 1,3-Liter-Maschine hat mit der 970 Kilo leichten Fulvia leichtes Spiel. Ab 2000/min verkraftet der überraschend kultivierte Motor Vollgas, ohne sich zu verschlucken. Ab 4000/min kommt richtig Leben indas 89 PS starke kleine Coupé. Je höher das Tempo, desto mehr wirkt sich der günstige cw-Wert von 0,39 aus: Die kleine Fulvia läuft Tempo 165, was schnell war für ihre Zeit. Im Turiner Stadtverkehr kann eine engagiert geschaltete Fulvia ganz locker mit modernen Autos mithalten.

Die Fulvia ist mit 1,55 Meter Breite viel schmaler als ein Auto von heute. Man kommt selbst in Turin überall zwischen den aus allen Richtungen anfliegenden Rollern und den ausladenden Bussen durch. Da die Dachsäulen so dünn wie die Träger eines Abendkleids sind, sitzt der Fahrer wie im Glashaus und genießt einen ausgezeichneten Rundumblick.

Und weil die Turiner schließlich auch eine Portion Respekt vor der ehrwürdigen alten Dame haben, fährt es sich selbst im dichten Verkehr erstaunlich gelassen und unaufgeregt. Dabei hilft auch, dass die Fulvia für ihre Epoche ein sehr fahrsicheres Auto ist. Die Radauhängung mit vorderer Querblattfeder und starrer Hinterachse an Längsblattfedern ist so fein abgestimmt, dass der Lancia neutral durch Kurven geht und erst im Grenzbereich leicht untersteuert – eine Abstimmmung, die ein wenig an einen modernen AIfa 156 erinnert. Von derart einen Manieren geprägt, sprengt das 2+2 Coupé eigentlich die Grenzen seiner Klasse.Von seinem Charakter her hat es mehr von einem pagoden Mercedes als voneinem MGB GT, mit dem es in Größe und Leistung eher vergleichbar wäre.,,Wir sehen im Lancia-Coupé einen Geheimtipp für Deutschlands Autoindividualisten“ lautete das Fazit von auto motor und sport-Tester Manfred Jantke. Er attestierte „gepflegten Charakter und unterschwellige Sportlichkeit.“

Die Schwellenangst in Richtung Sportwagen überwand die Fulvia allerdings schon im Jahr 1966: Ambitionierte Fahrer konnten den HF (,,High Fidelity“) bestellen. Türen und Hauben waren aus Alu gefertigt, Plexiglas sparte weireresGewicht ein. Die ultimative Fulvia erschien 1968. Auf 1,6 Liter aufgebohrt, leistete die Maschine 114 PS. Ab Werk wurde sogar eine 112-PS-Sportversion mit schärferen Nockenprofilen und höherer Verdichtung offeriert. Die neue Stärke wurde durch Sporterfolge gekrönt: 1972 gewann Sandro Munari die Rallye Monte Carlo – was ein glückliches Jahr für Lancia einläutete. Es gipfelte im Gewinn der Internationalen Marken Meisterschaft. Erst in dieser kriegerischen Version machte die Fulvia am Ende ihrem Namen alle Ehre.